Erfahrungen der Finnlandreise finden Eingang in den Schulalltag in M-V

Erfahrungen der Finnlandreise finden Eingang in den Schulalltag in M-V

Letztes Jahr um diese Zeit sammelten 24 Lehrkräfte und Pädagogen aus 14 ganztägig arbeitenden Schulen sowie zwei Vertreter des Bildungsministeriums bleibende Eindrücke in der finnischen Bildungslandschaft. Die Serviceagentur Ganztägig lernen hat im Oktober des letzten Jahres im Rahmen des Erasmusplus- Projekts „Digitale Bildung und Innovationen in der Schule“ einen europäischen Austausch ermöglicht. In den Städten Jyväskylä und Helsinki besuchten die Teilnehmenden Schulen und andere Bildungsinstitute. Dort hatten die entsendeten Pädagogen Gelegenheit zu Hospitation und Austausch, sie haben thematisch vielfältige Inputs von Experten bekommen, Gespräche geführt sowie Bildungsinnovationen in dem nordischen Staat kennengelernt.

Zum Fortbildungsprogramm der Reise gehörte die Schulpraxis in unterschiedlichen Schularten (Vorschule, Kl. 1-6, 7-9, gymnasiale Oberstufe, Stadtschule, Dorfschule) sowie Themen aus den Bereichen Anwendung pädagogischer Praxis, Inklusion, Verwaltung, Wissenschaft und Lehrerbildung.

Die Serviceagentur Ganztägig lernen hat die Fortbildung eng durch organisierte Reflexionsrunden begleitet, sowohl vor Ort in Finnland als auch im Anschluss bei der möglichen Überführung von Ideen für die eigene Praxis. Bei der Reflektion wurde stark darauf geachtet, zielgruppenorientiert zu arbeiten und den inhaltlichen Fokus auf die Themen der Reise – Digitale Bildung und Kompetenzen des 21. Jahrhunderts – zu legen. Bereits im Dezember, nur zwei Monate nach der Reise wurde bei einem Nachtreffen deutlich, dass die Teilnehmenden ihre Erfahrungen aus Finnland bei der Weiterentwicklung ihrer Schulen einbringen.

Oravasaari-Schule

Als erstes bekam die Gruppe Einblicke in den schulischen Alltag der finnischen Schule Oravasaari im ländlichen Raum. So begannen die Teilnehmenden mit Eindrücken vom finnischen Bildungssystem an der Schule für alle bis zur 9. Klasse. Fester Bestandteil sind die Verknüpfung von Traditionen wie Naturverbundenheit und Moderne, wie die Nutzung digitaler Medien im Schulalltag. Die Teilnehmenden trafen Lehrkräfte, den Elternrat und die Schulassistentin, die über ihre Arbeit berichteten.

Mari Kyllönen, eine ehemalige Lehrerin und nun Doktorandin an der Universität Jyväskylä, stellte die Digitalisierungsstrategie der Kommune Jyväskylä auf allen Ebenen vor: Staat-Region-Kommune-Schule-Lehrer-Schüler. Im zweiten Input ging es um die  Möglichkeiten und Hindernisse der Digitalisierung. Diese betrachtete sie aus Sicht der Lehrer*innen in ihrer Forschungsarbeit.

Teacher Training School Jyväskylä

Traditionell gibt es in Finnland Schulen, die an Universitäten angegliedert sind. An diesen Schulen gehört es zum Alltag, dass – zusätzlich zum normalen Schulbetrieb – Lehramtsstudierende den Unterricht mitgestalten. Durch die Nähe zur Uni werden in den Schulen in der Wissenschaft erforschte Lernmodelle und Innovationen getestet. Die Student*innen unterrichten an der Teacher Training School und darüber hinaus auch in weiteren Schulen als Teil des Studiums. Dadurch ist es für finnische Lehrer*innen Alltag, Aktuelles aus der Forschung zu erfahren und Forschungsergebnisse in die Praxis umzusetzen. Die Vielfalt der Methoden ist allen bekannt und die Lehrer*innen wählen aus den Zielen die Methoden aus.

Zum Programm vor Ort gehörten die Vorstellung der Geschichte und des Konzepts der Finnischen Teacher Training School sowie der Lehrerausbildung; Schulrundgang durch Schüler*innen; Hospitationen in Unterrichtseinheiten verschiedener Fächer, Einblicke in die Gestaltung digitaler Lernprozesse sowie Inputs zu digitalen Werkzeugen im Unterricht, sensor-based learning zur Steigerung des Wohlbefindens, Gesundheitserziehung und das phänomenbasierte Lernen.

Lehrerbildungsinstitut, Universität Jyväskylä

Die Finnen sind ehrgeizig mit ihrer Lehrerbildung, deren finnischsprachige Wurzeln gerade in Jyväskylä liegen. Gemeinsam  wollen sie die beste Lehrerbildung der Welt entwickeln und anbieten.

Das Lehrerbildungszentrum und die Arbeit der Universität Jyväskylä wurden vorgestellt. In Inputs von Mari Kyllönen und Mikko Vesisenaho ging es um die aktuelle Digitalisierung in der Lehrerbildung (OPENDIGI) und das TPACK – Modell (Technological Pedagogical Content Knowledge - Ordnungsrahmen der unterschiedlichen Wissensbereiche einer Lehrkraft) mit Fokus auf die Notwendigkeit der regionalen und kollaborativen Schulentwicklung und Potentiale von Lehrer- bzw. Schulnetzwerken.

Kunstprogramm, Jyväskylä Stadttheater:

Einen innovativen Ansatz zur Förderung kultureller Bildung sowie das damit verbundene digitale Feedbacktool stellten Hanna Brotkin, die Projektleiterin, und Antti Niskanen, Leiter des Theaters von Jyväskylä, mit dem landesweiten Programm „Kunst für 8-Klässler*innen – Kunst zum Testen“ vor.

Für drei Jahre haben die Achtklässler im ganzen Land die Möglichkeit, an zwei kulturellen Angeboten – ein regionales und eins in der Landeshauptstadt – teilzunehmen und diese zu reflektieren. Im Mittelpunkt steht die Teilhabe an Kultur. Gleichzeitig konnten die Besucher*innen ein Gebäude von Alvar Aalto, dem berühmtesten finnischen Architekten, erleben.

 

Zentrum für Lernen und Beratung

Kristiina Pitkänen, eine beratende Lehrkraft, hat den Teilnehmer*innen das Zentrum für Lernen und Beratung Valteri – Onerva vorgestellt. Die Onerva-Schule des Zentrums ist für Schüler*innen, deren Familien, die zusätzliche Unterstützung beim Lernen brauchen. Es ist möglich, mit einem multiprofessionellen Team Unterricht, lernbasierte Reha und funktionale Anleitung zu erhalten, auch für eine kurze Zeit. Ziel ist es, dass wenn immer möglich die Schüler*innen die nächstgelegene Schule besuchen können. 

Beim Besuch konnten die Teilnehmenden der Gebärdensprache im Fernunterricht folgen, erhielten Informationen über die Digitalisierung im Gebärdensprachunterricht und informierten sich über neue inklusive Lernmöglichkeiten. Lernumgebung mit der Farb- und Akustikplanung und andere interessante Lösungen in der Architektur wurden vorgestellt. Sogar eine Sauna und ein Schwimmbad gab es in der Schule zu entdecken.

Schule Kuokkala

Seppo Pääkkönen, der Schulleiter, gab Einblicke in das  Schul- und Raumkonzept unter dem Fokus der Digitalisierung der Schule Kuokkala mit den Klassen 1-9.

Der schülergeführte Schulrundgang, Hospitationen und Austausch mit ICT-Tutor*innen der Schule gaben der Gruppe einen Einblick in die Arbeit, die technische Ausstattung, Aufgaben der ICT-Tutor*innen und der digitalen Agent*innen sowie den Einsatz digitaler Medien und virtueller Lernumgebungen.

Es wurde über die neuen nationalen Lehrpläne und das elektronische Evaluationssystem in der Pilotphase diskutiert.

Das Wohlbefinden der Schüler*innen spielt eine wichtige Rollen in den Schulen. Die deutschen Pädagog*innen erfuhren mehr über die Arbeit der Sonderpädagogen und das Konzept des kostenlosen Schulessens in Finnland.

Bundesweites Forschungszentrum für Bildung

Professor Jussi Välimaa, Leiter des Zentrums lieferte einen Überblick über die Aufgaben und aktuellen Forschungsprojekte sowie den Transfer der Forschungsarbeit in die Praxis. Es gab einen Input zum Kollaborativen Lernen. Vorgestellt und diskutiert wurde auch das Schulnetzwerk Ped.net, das den Einsatz von Kommunikations- und Informationstechnologie fördert.

Niilo Mäki Institut

Die Teilnehmer*innen besuchten das Institut für multidisziplinäre Forschung und Entwicklung für Lernschwierigkeiten mit vielen Projekten und Forschungsvorhaben. Die Aufgabe des Instituts besteht darin, benachteiligte  Kinder und Jugendliche so früh wie möglich in ihren Lernprozessen zu unterstützen.

Dr. Juha-Matti Latvala, der Leiter des Zentrums, stellte konkrete Projekte vor. Dazu gehörte u. a. eine App zum „game-based-learning“ namens Ekapeli. Diese unterstützt Schüler*innen, spielend Lesen zu lernen. Darüber hinaus lernten die Teilnehmenden ein Evaluationstool kennen, das für die Ermittlung von Lernschwierigkeiten bei Jugendlichen und Erwachsenen entwickelt wurde.

Tikkala-Schule

In der Tikkala-Schule gab es eine Austauschrunde mit den finnischen und deutschen Kollegen über Lern- und Lehrkonzepte, einen Einblick in den Schulalltag sowie Inspiration durch Hospitationen im Unterricht und in der Pausengestaltung.

Die Teilnehmenden verfolgten, wie die Schüler*innen in der Natur lernten. Die  Schüler*innen der Klassen 5 und 6 hatten ein Konzept für eine Unterrichtseinheit vorbereitet, bei der sie die Vorschulkinder im Wald begleiteten. Das Thema des Tages war Aleksis Kivi, ein Schriftsteller Finnlands, dessen Werke stark mit dem Wald verbunden sind. Kivi zu Ehren wird am 10. Oktober in Finnland gefeiert und in seinem Sinne gehandelt. 

Eine andere Schülergruppe unterrichtete die Schüler*innen der Klassen 1 und 2, was sie selbst am Anfang der Woche über den menschlichen Körper in kleinen Studien gelernt hatte. Das Konzept „Große unterrichten Kleine“ wurde von den deutschen Teilnehmenden sehr positiv aufgenommen, viele planen es an ihren Schulen auszuprobieren.

HundrED

In Helsinki ging es weiter mit dem Besuch beim SITRA-Fonds. Dort lernten die Teilnehmenden aktuelle Preisträgerprojekte sowie das Programm HundrED mit 100 finnischen und globalen Schulinnovationen sowie 100 Visionen zur Bildung kennen.

Saku Tuominen, der Gründer und Kreativdirektor von HundrED erzählte, wie das Programm HundrED, das in Finnland, aber auch weltweit Bildungsinnovationen aufspürt und mit Interessierten teilt, mit dem Gedanken „Wir helfen Schulen zu verändern”, um Innovationsideen ins Schulleben zu implementieren.

www.hundred.org

SITRA

SITRA ist ein Fonds für Innovationen, den das Finnische Parlament 1966 dem Land zum 50-jährigen Bestehen geschenkt hat. Die Vision damals wie heute ist, einen weiteren erfolgreichen Aufbau des Landes zu sichern. Während unseres Besuchs wurden zwei Bildungsinnovationen zur besseren Nutzung von Wissen in einer Welt, in der sich Menschen und Informationen immer mehr bewegen, vorgestellt:

Im Projekt "Positive Lebensläufe" geht es um ein Tool, das es Kindern und Jugendlichen ermöglicht, ihre Fähigkeiten umfassend zu erkennen. Positive Lebensläufe können verwendet werden, um die Darstellung von Fähigkeiten in verschiedenen Umgebungen - in KITA, in Schulen, zu Hause, in Hobbies etc. - zu speichern. Der Lebenslauf ist auf die Bedürfnisse des Kindes zugeschnitten und wächst mit dem Kind zusammen. Mit dem Tool werden die Stärken des Kindes für einen erfolgreichen Bildungs- und Berufsweg betont. Lehrkräfte erhalten ein Training und dokumentieren die Eigenschaften auf einer digitalen Plattform. In Finnland kann sich grundsätzlich jedes Kind an dem Programm beteiligen und so die Macht von positivem Feedback kennenlernen.

Es folgte die Vorstellung des Programms Head Ai, das als künstliche Intelligenz das Know-how von Menschen untersucht, indem die offenen Daten des Netzwerks genutzt werden. Anhand der Ergebnisse sieht man, welche Expertise derzeit benötigt wird und welche nicht. Dies wird es einfacher machen, zu bewerten z. B. welche Art von Bildung den Bürgern angeboten wird.

Eine gemeinsame Diskussion über die Innovationen und die SITRA-Publikation „Bildung der Zukunft und deren Nutzen für das Bildungssystem“ bildeten den Abschluss der fünftägigen Fortbildungsreise. Besonders spannend dabei war die Kontroverse über Ethik in Bezug auf Digitalisierung.

https://www.sitra.fi/en/

Auswirkungen und Feedback

Bei einem Nachtreffen der Reise, in zahlreichen schulinternen Treffen sowie auf dem gemeinsamen Netzwerktreffen für 86 Lehrkräfte aus 34 Schulen berichteten die Teilnehmenden über die Erfahrungen. Dabei legten sie einen Fokus darauf, welche Impulse und Ideen sie an ihren Schulen implementieren wollen. Im Folgenden ein beispielhafter Auszug:

Digitale Bildung: Anpassung/Aktualisierung bzw. Erstellung eines Medienkonzepts; Einbeziehung von digitalen Medien in alle Unterrichtsfächer; regelmäßige Wartung und Aktualisierung der PCs und Laptops.

Ausstattung und Architektur: mehr Wert auf Lernumgebungen legen; Sanierungs- und Baukonzepte mit Lehrpersonal und allen Beteiligten gemeinsam planen; Bedeutung des Mobiliars; lärmreduzierende Einrichtung (Decken, Wände, etc.).

Unterrichtsgestaltung: Schüler*innen lernen von Schüler*innen; jahrgangsübergreifende Kooperationsprojekte ausprobieren.

Schulentwicklung: Vorstellung der Kompetenzen der Zukunft (skills for the future) im Kollegium; Entwicklung mehr von Beschwerde- hin zu einer Innovationskultur; mehr Dialog im Kollegium, bei dem alle Kolleg*innen einbezogen werden, um den Erfahrungsaustausch zu fördern.

Als große Stärke Finnlands haben die Teilnehmenden den gesellschaftlichen Konsens empfunden, der Wirkung in der Schule zeigt. Dazu empfand die Gruppe den hohen Stellenwert von Bildung als nachahmenswert, der für finanzielle, räumliche und personelle Ressourcen sorgt. Viele haben die hohe Lernbereitschaft und soziale Kompetenzen sowie Lernkompetenzen der finnischen Schüler*innen beobachtet. Auch bei den finanziellen und qualitativen Bedingungen für das Schulessen halten die Teilnehmenden eine Orientierung an Finnland für sinnvoll.

Insgesamt war das Projekt eine große Bereicherung, von der nicht nur die teilnehmenden Lehrkräfte profitierten, sondern auch die Kollegien an den jeweiligen Schulen. Auch Lehrkräften aus den Netzwerkschulen der Serviceagentur Ganztägig lernen M-V wurde von den Erfahrungen berichtet. Sie hatten Gelegenheit zur Diskussion und Unterstützung der Hospitationsreisenden, um auch einen Nutzen für ihre Schule aus den Erfahrungen zu ziehen.